Die Vorstellung von Mumien ist mit dem alten Ägypten untrennbar verbunden.
Jahrtausende alte menschliche Körper, das leibhaftige Gegenüber von
Personen, die vor unvorstellbar langer Zeit gelebt haben, haben die Menschen
der Neuzeit seit jeher fasziniert. Mumien sind für Besucher von Ägyptenausstellungen
besonders attraktiv. Horrorfilm und Gruselliteratur haben sich des Mumienthemas
bemächtigt und bezeugen unsere Projektionen archetypischer Angstvorstellungen.
Jeder von uns kennt Boris Karloff als ‚Die Mumie', eine Filmfigur, der die Mumie
Pharao Ramses III. als Vorlage gedient hat.
Die Begräbnissitten der alten Ägypter waren
seit langem bekannt. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot, der erste
"Ägyptentourist" der Geschichte, hat sie um 450 v. Chr. genau beschrieben.
"Totenklage
und Begräbnis gehen folgendermaßen vor sich: Wenn in einem Hause ein angesehener
Hausgenosse stirbt, bestreichen sich sämtliche weiblichen Hausbewohner
den Kopf oder auch das Gesicht mit Kot, lassen die Leiche im Hause liegen und
laufen mit entblößter Brust, sich schlagend, durch die Stadt; alle weiblichen
Verwandten schließen sich ihnen an. Auch die Männer schlagen sich und haben
ihr Gewand unter der Brust festgebunden."
Der Leichnam des Verstorbenen wird dann den Balsamierern übergeben. Herodot
schilderte die geschäftliche Seite der Angelegenheit:
"Hiernach
schreitet man zur Einbalsamierung der Leiche. Es gibt besondere Leute, die dies
berufsmäßig ausüben. Zu ihnen wird die Leiche gebracht, und sie zeigen
nun hölzerne, auf verschiedene Art bemalte Leichname zur Auswahl vor. Wonach
man die vornehmste der Einbalsamierungsarten benennt, scheue ich mich zu sagen.
Sie zeigen dann weiter eine geringere und wohlfeilere und eine dritte, die am
wohlfeilsten ist. Sie fragen dann, auf welche der drei Arten man den Leichnam
behandelt sehen möchte. Ist der Preis vereinbart, so kehren die Angehörigen
heim, und jene machen sich an die Einbalsamierung."
Die Balsamierung für Reiche hat der Schriftsteller Thomas Mann in enger
Anlehnung an Herodot in seinem Josephsroman anschaulich geschildert. "Mumientechniker
und Verewigungskünstler", so schreibt er, ...
"... taten drinnen mit dem Leichnam, was die Brüder nannten: sie salbten
ihn. Aber nicht das war das rechte Wort. Mit einem krummen Eisen zogen sie ihm
das Gehirn durch die Nasenlöcher heraus und füllten die Hirnschale
mit Spezereien. Ein äthiopisches Messerchen, äußerst scharf aus Obsidian,
das sie elegant mit gespreizten Fingern führten, diente ihnen, die linke
Seite des Bauches zu öffnen, daß sie die Eingeweiden entfernten."
Die
inneren Organe wurden also aus dem Leib herausgenommen und gesondert konserviert.
Man umwickelte sie ebenfalls mit Binden und bestattete sie in vier großen Krügen,
die mit harzigem Salböl aufgegossen wurden. Diese sogenannten Kanopenkrüge
gab man ins Grab, wo sie fürderhin von den vier Söhnen des Gottes
Horus beschützt wurden.
Der Leichnam erfuhr unterdessen ausgeklügelte Behandlung. Dies imaginiert
Thomas Mann:
"Die leere Leibeshöhle spülten sie gründlich mit Dattelwein
und taten statt des Gekröses das Beste hinein, Myrrhe und Würzrinde
von den Wurzelschößlingen eines Lorbeers. Sie taten es mit Handwerksgenuß,
denn der Tod war ihr Kunstgebiet, und sie hatten ihre Freude daran, wie es nun
in des Mannes Leibe so viel reinlicher und appetitlicher aussah als zu Zeit
seiner Beseeltheit. Dann vernähten sie sorglich den Schnitt und legten
den Leichnam in ein Wannenbad von Salpeterlauge für volle siebzig Tage.
Während dieser Zeit feierten sie und aßen und tranken nur, wurden aber
für jede Stunde bezahlt. Als die Badefrist um und der Tote gesalzen, konnte
das Wickeln beginnen, eine bedeutende Arbeit. Byssusbinden, vierhundert Ellen
lang, mit Haftgummi bestrichen, endlose Leinenstreifen, von denen die feinsten
dem Körper am nächsten lagen, wickelten sie ... , immer rundum, bald
neben- und bald übereinander..."
Das Eingewickeltsein erschien den Hinterbliebenen als geradezu trostloser Gegensatz
zu Leben und Beweglichkeit. In einer alten Klage heißt es:
"Weh, wehe, ... ach dieser Verlust! ... Der du so viele Leute hattest, du
bist nun im Lande, das das Alleinsein liebt! Der so gern die Füße öffnete
zum Gehen, der ist nun eingeschlossen, eingewickelt und beengt. Der so viel
feines Leinen hatte und so gern es anlegte, der schläft jetzt in abgelegten
Kleidern von gestern."
Mumienbinden
wurden aus alten Kleidungsstücken hergestellt. Selbst Königsmumien
sind gelegentlich in wiederverwertete Alttextilien gewickelt. Aus diesen Materialien
lassen sich heute genaü Erkenntnisse über altägyptische Web-,
Näh- und Färbetechniken gewinnen.
Viele Menschen konnten sich die Luxusvariante der Einbalsamierung nicht leisten.
Laut Herodot boten sich folgende Alternativen an:
"Wer die Kosten scheut und die mittlere Einbalsamierungsart vorzieht, verfährt
folgendermaßen: man füllt die Klystierspritze mit Zedernöl und führt
das Öl in den Leib der Leiche ein, ohne ihn jedoch aufzuschneiden und die Eingeweide
herauszunehmen. Man spritzt es vielmehr durch den After hinein und verhindert
den Ausfluß. Dann wird die Leiche die vorgeschriebene Anzahl von Tagen eingelegt.
Am letzten Tage läßt man das vorher eingeführte Zedernöl wieder
heraus, das eine so große Kraft hat, daß Magen und Eingeweide aufgelöst
und mit herausgespült werden. Das Fleisch wird durch die Natronlauge aufgelöst,
so daß von der Leiche nur Haut und Knochen übrig bleiben. Danach wird die
Leiche zurückgegeben, und es geschieht nichts weiter mit ihr. Die dritte,
von den ärmeren angewandte Art der Einbalsamierung ist folgende. Der Leib
wird mit Rettigöl ausgespült und die Leiche dann siebzig Tage eingelegt.
Dann wird sie zurückgegeben."
Herodot wies auch auf eine ganz spezielle Gefahr hin:
"Die Frauen angesehener Männer werden nicht gleich nach dem Tode zur
Einbalsamierung fortgegeben, auch schöne oder sonst hervorragende nicht.
Man übergibt sie den Balsamierern erst drei oder vier Tage später;
und zwar geschieht das deswegen, damit sich die Balsamierer nicht an den Fraün
vergehen. Es sei einmal einer wegen der Schändung einer frischen Fraünleiche
bestraft worden, den ein Berufsgenosse angezeigt hatte."
Während des Begräbnisses wird die Wiederauferweckung der Mumie durch
die Zeremonie der Mundöffnung dargestellt. Der Priester tritt auf die aufrecht
gestellte Mumie zu und spricht:
"Dein Mund war geschlossen, aber ich habe für dich gerichtet deinen
Mund und deine Zähne. Ich öffne für dich deinen Mund, ich öffne
für dich deine beiden Augen. Ich habe deinen Mund geöffnet mit dem
Gerät des Anubis, mit dem Gerät aus Erz, mit dem der Mund der Götter
geöffnet wurde. ... Der Verstorbene soll gehen und sprechen ..."
Daraufhin
umarmt der Priester die Mumie und versichert:
"Du bist ein Gott unter den Göttern, aber du bist auch zugleich im Besitze
alles dessen, was auf Erden dein eigen war. ... Dein Fleisch blüht und
wächst, dein Blut fließt in den Adern, und alle deine Glieder sind heil
und beweglich. Du hast dein Herz, dein wirkliches früheres Herz!"
Der Tote antwortet:
"Ich bin; ich bin! Ich lebe; ich lebe!"
Leider wurde die Totenruhe der Verstorbenen seit dem Altertum immer wieder
gestört. Die Fülle der Grabbeigaben, die unermeßlichen Reichtümer
im Tal der Könige stachelten zu allen Zeiten die Habgier der Menschen an.
Selbst die Aussicht, dem Toten höchstpersönlich zu begegnen, hielt
Räuber nicht von ihrer Untat ab. Auch auf Grabwänden eingemeißelte
Fluchformeln, in denen dem Grabräuber beispielsweise angedroht wurde, der
Tote werde ...
"... sein Genick packen und umdrehen wie das einer Gans"
... bewirkten wenig. Zu groß war die Versuchung, sich zu bereichern.
In einem Gerichtsprotokoll aus der Zeit der 20. Dynastie lesen wir das Geständnis
von Grabräubern, die in ein Königsgrab eingedrungen waren.
"Da öffneten wir ihre Särge und die Hüllen, in denen sie lagen.
Wir fanden diese ehrwürdige Mumie dieses Königs ... mit einer langen
Reihe von goldenen Amuletten und Schmucksachen am Hals und den Kopf mit Gold
bedeckt. Die ehrwürdige Mumie dieses Königs war ganz mit Gold überzogen
und seine Sargkasten waren innen und außen mit Gold und Silber bekleidet und
mit allerhand prächtigen Edelsteinen ausgelegt. Wir rissen das Gold ab,
das wir an der ehrwürdigen Mumie dieses Gottes fanden, und ebenso seine
Amulette und Schmucksachen, die an seinem Hals hingen, und die Hüllen,
in denen er ruhte. Die Königin fanden wir ebenso und rissen ebenso alles
ab, was wir an ihr fanden. Ihre Hüllen verbrannten wir, und wir stahlen
auch ihren Hausrat, den wir bei ihnen fanden, an goldenen, silbernen und bronzenen
Gefäßen. Wir teilten dann zwischen uns und teilten dies Gold, das wir bei
diesen Göttern gefunden hatten, an ihren Mumien, den Amuletten, Schmucksachen
und Hüllen in acht Teile."
Bis in unsere Tage werden Gräber geöffnet und die Totenruhe der Verstorbenen
gestört. Heute steht das Interesse der Wissenschaft an erster Stelle.
Als
im Jahr 1925 der Sarg des Königs Tut-anch-Amun geöffnet wurde, stand
eine wissenschaftliche Kommission bereit, die Mumie zu untersuchen. Ihr Leiter
Douglas Derry rechtfertigte das Vorgehen.
"Hier ist vielleicht eine Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf am Platz,
daß wir Tut-anch-Amun enthüllt und untersucht haben. Viele nennen unseren
Eingriff eine Entweihung und meinen, wir hätten den König ruhen lassen
sollen. Aber da das Grab nun einmal gefunden war und Grabräubereien zu
allen Zeiten vorgekommen sind, hätte die Erwartung ungeheurer Reichtümer
in dem Königsgrab den Räubern keine Ruhe gelassen. Der Gedanke, daß
nur einige Fuß unter der Erde ein ungeheurer Schatz verborgen liegt, wäre
zu verlockend gewesen. Selbst das Aufstellen einer starken Wache hätte
Raubversuche nur zeitweise verhindert. Jedes Nachlassen der Wachsamkeit hätte
die Diebe auf den Plan gebracht. Jetzt sind die Gegenstände im Antikenmuseum
geborgen, statt von Dieben und Händlern in alle Erdteile verstreut zu werden.
...
Hätten wir die Mumie nicht ausgewickelt - die Diebe in ihrer Gier nach
Kostbarkeiten wären weniger sorgfältig mit ihr umgegangen, und die
Wissenschaft wäre um die genaü anatomische Untersuchung gebracht worden."
Die Mumie des Tut-anch-Amun ist die einzige der Königsmumien, die noch
heute in ihrem Sarkophag im Grab selbst liegt. Genau von diesem Grab nahm auch
die Legende des sogenannten Fluchs der Pharaonen ihren Ausgang. Man erzählte
sich, der Entdecker des Grabes, Howard Carter, habe ein Tontäfelchen gefunden,
worauf einem Eindringling in das Grab angedroht wurde, "der Tod werde auf schnellen
Schwingen zu ihm kommen." Merkwürdigerweise ist dieses Täfelchen verschollen,
und man darf mit Fug und Recht bezweifeln, ob es je existiert hat. Dennoch:
die Legenden vom Fluch der Pharaonen hielten sich hartnäckig, gefördert
und ausgeschmückt von Journalisten, die genau wußten, welche Gruselgeschichten
ihre Leser liebten. Ganz bewußt wurden Unwahrheiten gedruckt, um Auflagen zu
steigern. So hieß es über die Untersuchung der Mumie Tut-anch-Amuns:
"Die Obduktion ... hatte tragische Folgen. Alfred Lucas (der Chemiker der
Altertümerverwaltung) erlag bald darauf einem Herzanfall. Wenig später
starb Prof. Derry, der den ersten Schnitt an der Mumie Tut-anch-Amuns ausgeführt
hatte, an Kreislaufversagen."
Wenn hier ein Fluch der Auslöser der Todesfälle war, dann handelte
es sich um einen Fluch mit Langzeitwirkung. Die Mumie Tut-anch-Amuns wurde am
11. November 1925 untersucht. Alfred Lucas starb 1945, Douglas Derry gar erst
1961 als betagter Mann von 87 Jahren.
Ob Fluch oder nicht: Mumien waren eines der interessantesten Kapitel der Ausgrabungsgeschichte
in Ägypten. Einer der frühen Entdecker, der Abenteurer Giovanni Belzoni,
beschieb die Entdeckung eines Grabes, das mehrere Mumien enthielt.
"Aber was für ein Ruheplatz! Umgeben von Toten, von Haufen von Mumien
an allen Seiten ... Das Schwarz der Wand, der wegen des Saürstoffmangels
nur schwache Schein der Kerzen und Fackeln, die verschiedenen Gegenstände
um mich herum, die miteinander zu sprechen schienen, und die Araber mit den
Kerzen und Fackeln in Händen, nackt und staubbedeckt und selber wie lebende
Mumien, dies alles gab ein unbeschreibliches Bild. ... (Ich suchte mir) einen
Ruheplatz, fand einen und wollte mich setzen, aber als mein Gewicht auf dem
Körper eines ägypters lastete, wurde dieser eingedrückt wie eine
Hutschachtel. Natürlich hätte ich mein Gewicht mit den Händen
abstützen können, aber auch sie fanden keinen besseren Halt; so versank
ich also unter dem Knirschen von Knochen, Lumpen und hölzernen Behältern
völlig in den zerbrochenen Mumien, und es erhob sich ein solcher Staub,
daß ich eine Viertelstunde still liegen bleiben mußte, bis er sich wieder gelegt
hatte."
Röntgendiagnostik, Computertomographie und moderne chemische Analyseverfahren
erlauben heute Rückschlüsse auf Ernährung und Krankheiten der
Verstorbenen. Wir lesen, daß die alten Ägypter an Bilharziose erkrankten
und von Parasiten gepeinigt wurden. König Merenptah hat in seinen letzten
Jahren an schwerer Arthrose, Arteriosklerose und an schmerzhaften Zahnabszessen
gelitten, wie viele seiner Zeitgenossen. Es hat Lepra gegeben und wahrscheinlich
auch Pocken. Die Staublunge wurde an einer Mumie nachgewiesen; vom stark verkrüppelte
Fuß des Pharao Siptah kann man auf das Vorkommen von Kinderlähmung schließen.
Der Nachweis von bestimmten Trichinen in einer Mumie ist der Beweis, daß die
Ägypter gern Schweinefleisch gegessen haben.
Mumien
geben eine Fülle von Hinweisen auf Lebens- und Umweltbedingungen im alten
Ägypten. Moderne Computertechnik eröffnet die Möglichkeit, das
ursprüngliche Aussehen der Menschen zu rekonstruieren. In den achtziger
Jahren ist es sogar gelungen, Teile der DNA, der genetischen Erbinformation
einer ägyptischen Mumie zu isolieren und zu reproduzieren.
Mumien mögen heute in erster Linie Datenlieferanten für die Wissenschaft
sein. Doch vergessen wir nicht: für die alten Ägypter sind sie der
Ort, wohin Seele und Lebenskraft zurückkehren, die große Hoffnung für
die Zeit nach dem Tod
"Ein schönes Begräbnis, möge es in Frieden kommen, wenn deine
70 Tag in deiner Leichenhalle vollendet sind, und du auf den Katafalk gelegt
bist. Du wirst von frischen Stieren gezogen, und die Wege sind mit Milch besprengt,
bis du den Eingang deines Grabes erreichst. Die Kinder deiner Kinder, alle vereint,
sie weinen mit sehnendem Herzen. ... Deine Glieder und deine Knochen sind vollständig,
wie es dir zukommt. Dir werden Verklärungssprüche vorgelesen, und
das königliche Totenopfer wird an dir vollzogen. Dein Herz ist bei dir,
wie es richtig ist. ... Du kommst in deiner früheren Gestalt wie am Tage,
an dem du geboren wurdest."
Mumie der Priesterin Nesitanebascheru
Spätzeit, 23. Dyn.