ein Sensationsprozess im republikanischen
Rom
Auf dem Forum
Schlechte Zeiten
Proskriptionen
Das Verbrechen
Lucius Cornelius Chrysogonus
Lucius Cornelius Sulla
Die Bürger von Ameria
Noch ein Mord?
Ciceros Verteidigung
Ciceros Zivilcourage
Rom, im Jahr 80 v. Chr.
Eine Menschenmenge drängt sich auf dem Forum. Jeder Zuschauer versucht,
einen guten Platz für die Verhandlung zu ergattern. Ein Mordprozeß
ist anberaumt, der ungewöhnlich spannend zu werden verspricht. In dem veschlafenen
Landstädtchen Ameria unweit der Hauptstadt soll ein gewisser Sextus Roscius
einen Mord verübt haben.
Der Ausgang des Prozesses ist deswegen so völlig ungewiß, weil auf
irgendeine, noch nicht ganz geklärte Weise, hochgestellte Persönlichkeiten
darin verwickelt zu sein scheinen. Hat nicht Chrysogonus, der finstere Günstling
des allmächtigen Dictators Lucius Cornelius Sulla, massiv von der Bluttat
profitiert?
Gerade hat der Verteidiger das Wort ergriffen. Wer ist dieser Mann? Warum spricht hier keiner der bekannten Redner? Viele aus dem Publikum kennen ihn noch nicht, den sechsundzwanzigjährigen jungen Anwalt namens Marcus Tullius Cicero.
"Ich möchte annehmen, ihr Richter, ihr seid erstaunt, weshalb gerade ich mich erhoben habe, da doch zahlreiche Redner von erstem Rang und Angehörige des höchsten Adels auf ihren Plätzen bleiben: ich, der ich diesen Männern, was Alter, Können oder Ansehen betrifft, durchaus nicht gewachsen bin."
Anwesend sind sie alle, die prominenten Redner und Rechtsgelehrten; niemand
will sich die Verhandlung entgehen lassen, aber keiner wagt sich aus der Deckung.
Cicero bemerkt das sofort: "Alle, deren Anwesenheit bei diesem Prozesse
ihr bemerkt, glauben zwar, man müsse ein durch ein neuartiges Verbrechen
begangenes Unrecht abwehren; doch es selbst abzuwehren, wagen sie wegen der
Ungunst der Zeiten nicht. So sind sie anwesend, weil sich ihrer Pflicht genügen
wollen, schweigen aber, weil sie der Gefahr auszuweichen suchen."
Worum handelt es sich bei dieser Gefahr? Was meint Cicero mit der "Ungunst
der Zeiten"?
Die römische Republik quälte sich durch einen der blutigsten Abschnitte
ihrer Geschichte. In einem Bürgerkrieg hatten die Feldherren Gaius Marius
und Lucius Cornelius Sulla miteinander um die Macht im Staat gerungen. Ihre
Anhänger waren nach Herkommen und politischer Überzeugung höchst
unterschiedlich. Die Anhänger des Marius vertraten die Interessen den einfachen
Volkes, oder gaben dies zumindest vor. Hinter Sulla aber stand die Senatsaristokratie,
Männer die sich arrogant "die Besten", Optimates, nannten. Wie
Sulla selber waren sie erzreaktionär und wollten die unumschränkte
Entscheidungsgewalt des Senat wiederherstellen, die durch populare Politiker
eingeschränkt worden war.
Sulla hatte im Bürgerkrieg gesiegt. Unter Mißachtung aller Traditionen
hatte er sich zum Dictator mit gesetzgebender Kompetenz ernannt und verfolgte
seine Gegner aufs Grausamste. Dazu fühlte er sich berechtigt, denn während
seiner Abwesenheit von Rom, - er hatte im Osten äußerst erfolgreich
Krieg geführt -, hatten die Anhänger des Marius unter den Sullanern
blutig gewütet. Rache hieß das Gebot der Stunde!
In seiner Biographie des Sulla schrieb der Geschichtsschreiber Plutarch:
"Als sich nun Sulla ans Morden machte und die Stadt mit Bluttaten ohne
Zahl und ohne Maß erfüllte, so daß auch viele, die mit Sulla
nichts zu tun hatten, auf Grund persönlicher Feindschaften umgebracht wurden,
da wagte ein junger Mann Sulla bei einer Senatssitzung zu fragen, wann der Jammer
aufhören und wie weit er noch gehen werde, bis man ein Ende des Geschehens
erwarten dürfe. "Denn", sagte er, "wir wollen nicht um Gnade
für diejenigen bitten, die du zu töten beschlossen hast, sondern nur
von der Befreiung von der Ungewißheit für diejenigen, welche du zu
schonen beschlossen hast." Als darauf Sulla erwiderte, er wisse noch nicht,
wen er freigeben wolle, nahm der andere wieder das Wort und sagte: "Dann
gib wenigstens bekannt, wen du bestrafen willst." Das versprach Sulla zu
tun."
Und wie er das tat! Proskriptionen hieß das Schlagwort der Zeit: öffentlicher Aushang von Listen der zur Tötung Vorgesehenen!
"Sulla ächtete nun sofort achtzig Bürger durch öffentlichen Aushang, ohne sich mit irgendeinem der leitenden Beamten zu verständigen. Obwohl sich alle darüber entrüsteten, ließ er doch nur einen Tag verstreichen und ächtete weitere zweihundertzwanzig und dann am dritten Tage eine nicht geringere Zahl. Obendrein erklärte er in einer Rede vor dem Volk, er ächte jetzt diejenigen, die ihm gerade einfielen; diejenigen, deren er sich jetzt nicht entsinne, werde er später ächten."
Die Proskriptionen waren nichts als nackter Terror.
"Es gab keinen Tempel der Götter, keinen gastlichen Herd, kein Vaterhaus, das rein blieb vom Blute Ermordeter; neben ihren Ehefrauen wurden Männer, bei ihren Müttern Söhne hingeschlachtet, und die aus Haß und Feindschaft umgebracht wurden, waren nur eine verschwindende Minderzahl, verglichen mit denen, die wegen Geldes ermordet wurden; ja, die Mörder unterstanden sich, zu sagen, dem einen habe sein großes Haus den Tod bereitet, dem sein Garten, einem anderen seine heißen Bäder."
Die Männer, deren Namen auf den Proskriptionslisten auftauchten, wurden für vogelfrei erklärt, wer sie umbrachte, erhielt eine Belohnung. Ihr Hab und Gut wurde konfisziert und versteigert. Der Willkür wurde vollends Tür und Tor geöffnet, als Sulla verlautbaren ließ, daß Namen auch nachträglich noch auf die Listen gesetzt werden konnten. Eine irgendwie geartete Rechtssicherheit gab es nicht mehr.
Gesetz und Anstand seien nun lange genug mit den Füßen getreten worden, meinte Cicero. Mit diesem Prozeß sollte, mußte ein Neuanfang gemacht werden. Eindringlich wandte er sich an den Vorsitzenden des Gerichts: "Du siehst, welche Menschenmenge zu dieser Verhandlung zusammengeströmt ist; du erkennst, was alle Welt erwartet, wie sehr man auf scharfe und strenge Urteile erpicht ist. Nach langer Unterbrechung ist dies das erste ordentliche Verfahren wegen Mordes, das wieder stattfindet, nachdem in der Zwischenzeit die gemeinsten und ungeheuerlichsten Metzeleien begangen worden sind. Wir bitten dich und euch, ihr beiden Richter, schreitet mit äußerster Schärfe gegen Verbrechen ein, leistet Leuten, die vor nichts zurückschrecken, mit größter Energie Widerstand."
Worum ging es nun eigentlich bei dem Prozeß gegen Sextus Roscius aus Ameria?
Cicero erklärt:
"Worum es sich hierbei handelt? Um das Vermögen des Vaters dieses
Sextus Roscius hier, das einen Wert von sechs Millionen Sesterzen hat."
Aber was war geschehen? Die Richter lauschten gespannt.
"Sextus Roscius wird beschuldigt, seinen Vater ermordet zu haben. Eine verbrecherische und ruchlose Tat!"
Schon vor Prozeßbeginn scheint klar gewesen zusein, daß die Sachlage
nicht so eindeutig war, wie die Anklage es vermuten läßt. Cicero
jedenfalls war fest davon überzeugt, daß der Angeklagte völlig
unschuldig und lediglich den wahren Drahtziehern des Verbrechens im Wege war.
Und er scheute sich nicht, den berüchtigten Namen sogleich auszusprechen.
"Ein Mann, der gegenwärtig wohl die größte Macht in
unserem Staate hat, Lucius Cornelius Chrysogonus, will das Vermögen für
zweitausend Sesterzen von Sulla gekauft haben."
Wer war dieser Mann?
Chrysogonus war ein Freigelassener und Günstling des Dictators Sulla. Er war Sullas Mann fürs Grobe, von seinen Kreaturen die berüchtigtste. Von Chrysogonus munkelte man, daß er sich skrupellos bei Versteigerungen von Proskriptionsvermögen bereichert hatte. Manchmal war er als Strohmann des Machthabers selber aufgetreten. So auch in diesem Falle, behauptet Cicero: "Dieser Mensch ist ohne jedes Recht über ein so großes und stattliches Fremdvermögen hergefallen, und nun glaubt er, daß das Leben des Sextus Roscius diesem Vermögen im Wege steht und den Genuß beeinträchtigt."
Doch Chrysogonus war nicht von Anfang an bei der Sache dabei gewesen. Den eigentlichen Mordauftrag hatten ganz andere gegeben.
"Ich will euch den Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, von Anfang an darlegen. Sextus Roscius, der Vater des Angeklagten, war Bürger von Ameria. Vornehme Geburt und Vermögen verschafften ihm mühelos nicht nur in seiner Heimatstadt, sondern auch in deren Umgebung den ersten Platz."
Mehr noch: Roscius besaß auch einen guten Namen in der Hauptstadt. Altadelige
Familien wie die Meteller und die Servilier zählten zu seinen Gönnern.
Kein Wunder, daß er im Bürgerkrieg der Seite des Senats zuneigte
und über Sullas Sieg bestimmt nicht unglücklich gewesen war. Er hatte
aber auch Feinde, und zwar in seiner eigenen Familie.
"Er war seit jeher mit zwei Rosciern aus Ameria verfeindet gewesen."
Von diesen beiden, Roscius Capito und Roscius Magnus, war einer sogar bei der Verhandlung anwesend.
Üble Burschen waren das, fand Cicero, brutale Schlägertypen:
"Die beiden, sie heißen alle zwei Titus Roscius, der eine hat
den Beinamen Capito, der anwesende wird Magnus genannt, sind Leute dieses Schlages:
der erstere gilt als alterfahrener Gladiator, der zahlreiche Siege erkämpft
hat; doch dieser hier hat ihn unlängst zu seinem Fechtmeister erkoren,
und wenn er, soviel ich weiß, vor der Mordschlacht nur ein Anfänger
war, so hat er nunmehr mühelos den eigenen Lehrer durch verbrecherischen
Wagemut übertroffen."
Die Berufsbezeichnungen "Gladiator" und "Fechtmeister" sind nicht unbedingt wörtlich zu nehmen. Cicero wollte mit dieser Beschreibung lediglich illustrieren, was für blutrünstige Kerle sie waren.
Genaugenommen war der Plan zur Ermordung des alten Sextus Roscius von diesen beiden Finsterlingen ausgegangen. Besonders intelligent hatten sie sich dabei allerdings nicht angestellt. Das ganze Komplott war durchsichtig, was ihnen aber einerlei gewesen zu sein scheint. Ob sich der Sohn des Roscius zur Zeit des Verbrechens überhaupt in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatte, kümmerte sie nicht, ja, sie sorgten nicht einmal für ein eigenes Alibi. Sie gingen wohl davon aus, ihre Verbindung zu Chysogonus böte ausreichend Schutz.
"Der jüngere Sextus Roscius hielt sich in Ameria auf, Titus Roscius Magnus war jedoch hier in Rom. Der Sohn weilte ständig auf den Gütern und hatte sich dem Wunsche des Vaters gemäß, der Verwaltung des Besitzes und dem Leben auf dem Lande verschrieben. Und es war in Rom, daß der ältere Sextus Roscius, als er von einer Einladung zurückkehrte, in der Nähe der pallacinischen Bäder ermordet wurde. Ich denke schon dieser Umstand läßt nicht im Ungewissen, wen der Verdacht der Untat trifft."
Aber es gab noch weitere Ungereimtheiten.
"Als Sextus Roscius ermordet war, überbringt als erster ein gewisser Mallius Glaucia die Nachricht nach Ameria, ein kleiner Mann, ein Freigelassener, als Schutzbefohlener dem Anhang des Magnus hier zugehörig, und er überbringt sie nicht in das Haus des Sohnes, sondern des Feindes Capito, und obwohl Vater Roscius nach der ersten Nachtstunde ermordet wurde, kommt dieser Bote mit dem ersten Morgengrauen nach Ameria; in zehn Stunden legte er nächtlicherweise sechsundfünfzig Meilen eilends im Reisewagen zurück. Denn er wollte nicht nur als erster dem Feinde die ersehnte Botschaft übermitteln, sondern auch das Blut des Feindes, so frisch wie möglich, und die Waffe, die man kurz zuvor aus der Leiche herausgezogen hatte, vorweisen."
Kurz darauf kam Chrysogonus ins Spiel. Der mächtige Freigelasse wurde buchstäblich geködert, empört sich Cicero: "Vier Tage nach diesen Ereignissen wird die Sache dem Chrysogonus im Lager des Lucius Sulla vor Volaterrae hinterbracht; man weist auf die Größe des Vermögens hin; man erwähnt die Qualität des Landbesitzes (der ältere Roscius hinterließ nämlich dreizehn Güter, die sämtlich an den Tiber grenzen) und die Hilflosigkeit und Verlassenheit des Sohnes; die Mörder legen dar, daß Sextus Roscius, der Vater des Angeklagten, ein so angesehener und beliebter Mann, ohne Schwierigkeit umgebracht worden sei: da könne man mit ganz leichter Mühe auch diesen unvorsichtigen und tölpelhaften und in Rom unbekannten Menschen, den Sohn nämlich, aus dem Wege räumen; sie versprechen hierzu ihre Dienste. Ich will euch nicht länger hinhalten, ihr Richter: der Pakt wird geschlossen."
Um dem Ganzen das Mäntelchen der Legalität umzuhängen, bediente man sich eines ebenso durchsichtigen, wie schäbigen Tricks: der Name des Ermordeten wurde nachträglich auf die Proskriptionliste gesetzt, obwohl diese schön längst geschlossen worden waren.
"Als man der Ächtungen mit keinem Worte mehr gedachte, als auch die zurückkehrten, die sich zuvor gefürchtet hatten, und schon glaubten, alle Gefahr überstanden zu haben, da trägt man den Namen des Sextus Roscius in die Listen der Geächteten ein, eines Mannes, der sich mit größtem Eifer für den Adel eingesetzt hatte; Chysogonus wird Käufer des Vermögens; drei, und zwar die allerbesten Güter, werden dem Capito zu eigen übergeben, und er besitzt sie heute noch; auf alle übrigen Reichtümer stürzt sich der T. Roscius Magnus hier, im Namen des Chrysogonus, wie er selbst zugibt."
Ein großes Problem hing wie ein Damoklesschwert über der Verhandlung. Was war mit dem Staatschef? Griff man nicht, indem man Chrysogonus anging, Lucius Cornelius Sulla selber an?
Dieser Gefahr war sich Cicero bewußt. An verschiedenen Stellen seiner Rede betonte er, es es allein Chrysogonus, nicht aber Sulla, dem seine Vorwürfe gälten: "Dieses alles, ihr Richter, hat sich, wie mir zuverlässig bekannt ist, ohne Wissen des Lucius Sulla zugetragen. Er ist durch so viele und wichtige Obliegenheiten beansprucht, daß er nicht einmal frei aufatmen kann; da ist es wirklich kein Wunder, wenn ihm etwas entgeht. Mag er noch so sehr vom Glück begünstigt sein (wie er es wirklich ist): trotz aller Glücksumstände kann es keinen Menschen geben, der nicht in einer großen Gefolgschaft einen schurkischen Sklaven oder Freigelassenen hätte."
Und in diesem Fall war allein Chrysogonus der Schurke.
"Der andere da aber, Chrysogonus kommt dir vom Palatin und aus seinem eigenen Haus in die Stadt herab; sein Haus ist vollgepropft mit korinthischem und delischem Geschirr. Was meint ihr, was sich außerdem an ziseliertem Silber, an Teppichen, an Gemälden, an Statuen, an Marmor bei ihm befinden muß? Doch wohl eine solche Menge, wie sie sich nur immer aus vielen prächigen Haushaltungen während einer Zeit wüster Räubereien in einem einzigen Hause aufhäufen ließ. Was für ein Aufwand, welche Verschwendung wird da wohl Tat für Tag getrieben? Was für Gelage finden da erst statt! Gehörige, möchte ich glauben, in einem solchen Hause - wenn man so etwas noch für ein Haus halten darf und nicht für eine Zuchtstätte der Liederlichkeit und für eine Herberge sämtlicher Laster."
Damit, so hoffte Cicero, war ein für allemal klargestellt, wer der wirkliche Bösewicht war. Chrysogonus an den Pranger zu stellen, seine Willkürherrschaft zu beenden war ein Anliegen, das weit über den Prozess hinausreichte. "Erstens verlange ich von Chrysogonus, daß er sich mit unserem Hab und Gut begüge und sich nicht an Blut und Leben vergreife. Zweitens verlange ich von euch, ihr Richter, daß ihr das Unglück Schuldloser lindert und anläßlich des Verfahrens gegen Sextus Roscius eine Gefahr beseitigt, die sich gegen die Allgemeinheit richtet."
Cicero fährt mit der Beschreibung der Ereignisse fort: "Unterdessen kommt unser Magnus, der Treffliche, als Verwalter des Chrysogonus nach Ameria; er macht sich über die Güter des Angeklagten her; er jagt den Unglücklichen, von Trauer Gebrochenen, der noch nicht einmal allem Brauch für das Begräbnis des Vaters Genüge getan hatte, mittellos aus seinem Haus, vertreibt ihn Hals über Kopf vom Herd seiner Vorfahren."
Begreiflicherweise riefen diese Ereignisse in dem verschlafenen Landstädtchen helle Aufregung hervor.
"Bei den Bürgern von Ameria rief dieses Vorgehen große Empörung hervor. Jedermann war bereit, lieber alles zu wagen, als mit ansehen zu müssen, wie Magnus auf dem Besitz des Roscius, dieses trefflichen und ehrenwerten Mannes, prahlerisch den Herrn spielte. Und so kommt alsbald ein Beschluß der Ratsherren zustande: die zehn Vorsteher sollten zu Lucius Sulla reisen und ihn davon unterrichten, was für ein Mann Sextus Roscius gewesen sei; sie sollten über das Verbrechen und die Rechtswidrigkeiten dieser Leute Klage führen und Sulla bitten, er möchte die Ehre des Toten und das Vermögen des unschuldigen Sohnes retten."
Trotz des Terrors, der Verfolgung und der Gesinnungsschnüffelei der vergangenen Jahre brachten die Mitbürger des Ermordeten erstaunlich viel Zivilcourage auf. Cicero verlas den Stadtratsbeschluß in seinem Plädoyer und betonte dabei abermals die völlige Unschuld Sullas. Tatsächlich deutet einiges darauf hin, daß Sulla wirklich nicht oder nur am Rande in das Verbrechen verwickelt war. Die Abordnung aus Ameria drangen jedenfalls gar nicht bis zu ihm vor. Kaum war sie in der Hauptstadt angelangt, als auch schon Chrysogonus die Ratsherren abwimmelte.
"Er versicherte, er werde den Namen des Sextus Roscius aus den Listen tilgen und dem Sohne die Güter frei von fremden Rechtstiteln übergeben."
Gutgläubig, wie sie waren, gaben sich die Leute zufrieden und zogen wieder heimwärts, ohne Sulla gesprochen zu haben.
Für den jungen Sextus Roscius nahm die Sache nun regelrecht bedrohliche Züge an.
"Schließlich stellten die Schurken dem Leben unseres Sextus Roscius nach. Denn sie waren der Meinung, daß sie das fremde Vermögen nicht länger würden behalten können, wenn der wahre Eigentümer unbehelligt bliebe. Sobald Roscius diese Anschläge bemerkte, flüchtete er nach Rom."
Dort stellte sich der junge Mann unter den Schutz jener einflußreicher
Familie, der schon der Vater als Klient verbunden gewesen war: der Caecilii
Metelli. Beschützt von den Metellern war Roscius für Mordanschläge
unerreichbar.
Die wahren Mörder des alten Roscius mußten sich nun schleunigst etwas
anderes überlegen. Zu diesem Zeitpunkt ersannen sie den wahrhaft teuflischen
Plan: der Sohn sollte des Mordes an seinem Vater angeklagt und verurteilt werden.
Dann konnte nichts und niemand mehr Anspruch auf Geld und Gut erheben. Schnell
fand sich auch ein charakterloses Individuum, das die Anklage erhob: ein zwielichtiger
Bursche namens Erucius.
"Es sind, soweit ich die Sache beurteilen kann, drei Dinge, die zu dieser Stunde gegen Sextus Roscius sprechen: der Schuldvorwurf der Gegner, ihre Skrupellosigkeit, und ihre Macht. Die Erfindung des Schuldvorwurfs übernahm der Ankläger Erucius; den Anteil der Skrupellosigkeit verlangen die beiden Roscier für sich; Chrysogonus aber, der das meiste vermag, kämpft mit der Waffe seiner Macht."
Punkt für Punkt zerriß Cicero die Anklageschrift des Erucius förmlich in der Luft. War Sextus Roscius ein verbrecherischer Mensch fragte Cicero. Die Ironie in seiner Stimme war kaum zu überhören als er fortfuhr: "Dann ist er also ein eingefleischter Meuchelmörder, ein verwegener Mensch und war oft in Bluttaten verwickelt!"
Natürlich nicht! Das hatte nicht einmal Erucius behauptet!
"Was also hat dem Sextus Roscius diese furchtbare Wahnsinnstat eingegeben?"
"Er mißfiel dem Vater!" behauptet der Ankläger.
Nichts, so führte Cicero aus, deute darauf hin. Doch der Ankläger
gab so schnell nicht auf. Er bestand darauf, daß der alte Rocius keine
Freude an seinem Sohn gehabt habe.
"Ich weiß nicht, was der Grund des Hasses war; ich erkenne jedoch,
daß Haß bestanden hat."
Die lahme Begründung für diese Behauptung gipfelte in dem Hinweis,
der Sohn habe sich auf Weisung des Vaters ständig auf den Gütern aufhalten
müssen.
"Was?" fragte Cicero. "So viele, schöne, so ertragreiche
Güter hätte Sextus Roscius seinem Sohne zur Bewirtschaftung und Verwaltung
überlassen, um ihn zu strafen und zu verbannen?" Die Wortgewalt,
mit der Cicero nun auf den Ankläger eindrosch, war dieser in keiner Weise
gewachsen! Arbeit in der Landwirtschaft, Verwaltung ländlicher Güter
sind Auszeichnungen und nicht Hintansetzungen! Schon in der glorreichen ältesten
Zeit hätte man Männer, die Konsuln werden sollten vom Pfluge herbeirufen
mussen! Diese, - beim Herkules! - hätten mit Eifer ihre Äcker bestellt
und den Ruhm des römischen Volkes vergrößert! "Gibt
es sonst noch was?"
Kleinlaut und fast maulend trug der Ankläger die sogenannten Beweise für das schlechte Verhältnis zwischen Vater und Sohn vor: "Er ging nie gemeinsam mit dem Vater zu einem Gastmahl."
"Allerdings nicht", parierte der Verteidiger, "er kam ja nicht einmal in eine Stadt, es sei denn ganz ausnahmsweise."
"Fast niemand lud ihn zu sich ein."
Nun verlor der Redner allmählich die Geduld: "Kein Wunder, denn weder lebte er in Rom, noch konnte er mit einer Gegeneinladung aufwarten. Dergleichen ist doch Firlefanz!"
"Der Vater trug sich mit der Absicht, den Sohn zu enterben."
"Ich horche auf: jetzt bringst du etwas vor, das zur Sache gehört. Denn auch du wirst zugeben, denke ich, daß jene anderen Punkte geringfügig und läppisch sind."
Aber auch zu dieser letzten Behauptung konnte Erucius nichts, aber auch gar nichts Beweiskräftiges vorbringen. Beschämt versank er in Schweigen.
Immer deutlicher stieg es Richtern und Zuhörern ins Bewußtsein: für diese Anklage gab es auch nicht den geringsten Beweis. Der ganze Prozeß war von der Klägerseite praktisch überhaupt nicht vorbereitet worden. Dafür gab es nur eine einzige Erklärung: niemand hat das für nötig gehalten. So sicher war man gewesen, daß allein die entfernte Möglichkeit, der allmächtige Chrysonogus könnte mit der Sache etwas zu tun haben, alle Welt vor Angst schlottern und jedem möglichen Verteidiger das Maul stopfen würde.
Noch als der Ankläger zu sprechen aufhörte, hatten sich die Urheber
der Mordtat in Sicherheit gewiegt. Doch dann gab es für sie ein bitterböses
Erwachen.
"Schließlich beendete er seine Rede, er setzte sich. Ich erhob mich. Er schien aufzuatmen, da ja kein anderer sprechen würde. Ich habe beobachtet, daß er solange Späße machte und sich mit anderen Dingen beschäftigte, als ich nicht Chrysogonus nannte. Kaum hatte ich ihn berührt, da richtete sich der Mensch auf; er schien sich zu erstaunen. Abermals und ein drittes mal nannte ich den Namen. Hernach rannten unablässig Leute hin und her; sie sollten denk' ich, dem Chrysogonus mitteilen, es sei jemand unter den Bürgern, der es wage, seinem Wunsche zuwiderzuhandeln und zu sprechen; die Sache laufe anders, als er angenommen habe."
Nicht nur, daß Cicero die Anklage zerpflückte, er wies furchtlos die Verstrickung des Chrysogonus nach. Nach dieser Beweisführung kam eine Verurteilung des Angeklagten nicht mehr in Frage. Schließlich griff Cicero Sullas Günstling Chrysogonus direkt an. Warum trachte er dem jungen Roscius durch diese Mordklage nach dem Leben, wenn er sich seines Eigentums doch ohnehin schon bemächtigt habe?
"Du hast gar keinen Grund, Chrysogonus, diesen Elenden in ein solches Unglück stürzen zu wollen! Bei den unsterblichen Göttern! Was ist das für eine furchtbare Grausamkeit, was für ein bestialischer und entsetzlicher Charakter! Welcher Wegelagerer war je so schonungslos, welcher Seeräuber so brutal, daß er, wenn er den Fang unverkürzt ohne Blutvergießen bekommen konnte, lieber eine blutige Beute weggenommen hätte?"
Das Plädoyer überzeugte das Gericht vollständig. So durchschlagend war Ciceros Erfolg, daß nicht nur Sextus Roscius freigesprochen wurde, sondern daß er selbst mit einem Schlag der bekannteste Anwalt und Redner Roms wurde. Eine öffentliche Person war er, an der sich zu vergreifen nicht einmal Chrysogonus wagte.
Viele Jahre später sollte Cicero zurückblicken und feststellen, seine Rede sei damals sehr von jugendlichem Überschwang geprägt gewesen, allzu sehr habe er dramatisiert. Wie dem auch gewesen sei, er hat durch die fast schauspielhafte Inszenierung seines Auftritts das, worum es ihm ging, recht gut deutlich gemacht. Er wollte, daß für römische Gerichte der Grundsatz der Humanitas, der Menschlichkeit, wieder gälte nach all den Greueln der vergangenen Jahre. Dafür hatte er alle rednerischen Mittel einsetzen wollen.
So appellierte Cicero zum Schluß an die Richter: "Jeder von euch erkennt, daß das römische Volk, dem man einst größte Milde gegenüber seinen Feinden zuerkannte, jetzt durch Schonungslosigkeit gegen seine eigenen Bürger Not leidet. Entfernt die Schonungslosigkeit aus der Bürgerschaft, ihr Richter, duldet nicht, daß sie länger in diesem Staate wütet! Denn wenn wir zu jeder Stunde sehen und hören, daß etwas Grausiges geschieht, dann mögen wir die mildeste Sinnesart haben: unser Herz verliert, wenn die bedrückenden Ereignisse sich ständig wiederholen, jegliches Empfinden für die Menschlichkeit."
Diesem Text liegt die Rede Ciceros "Für Sex. Roscius" in der Artemis & Winkler-Ausgabe des Jahres 2000 (übersetzt von M. Fuhrmann) zugrunde.