Cornelia, Mutter der Gracchen

 

Von der rasanten Expansion Roms im 2. Jahrhundert v. Chr. profitierte fast ausschließlich die römische Oberschicht. Um wenigstens zu verhindern, daß die unteren Schichten der Bevölkerung durch sie verelendeten, versuchten die beiden Volkstribunen Tiberius und Gaius Sempronius Gracchus soziale Reformen durchzusetzen. Als sie scheiterten und selbst dabei zu Tode kamen, standen sich Gegner und Befürworter der gracchischen Politik haßerfüllt gegenüber. Vor Cornelia, der Mutter der beiden Tribunen, hatten jedoch alle größte Achtung. Die Haltung, mit der Cornelia ihr schweres Schicksal ertrug, galt als beispielhaft. Der Lebensweg Cornelias und ihrer Söhne vollzog sich in einer Zeit sich ständig steigernder sozialer Spannungen und blutiger innenpolitischer Auseinandersetzungen.

Die Tochter des Scipio Africanus
Die Gemahlin des Consuls
Die zwölffache Mutter
Tiberius Sempronius Gracchus und die Ackergesetze
Sabotage des Senats
Mord am Wahltag
Rufmord
Gaius Sempronius Gracchus, der Revolutionär
Die Katastophe

"Wohl beugt das Schicksal bisweilen ein tapferes Herz, wenn es dem Leiden aus dem Wege gehen will. Die Kraft aber, das Unglück standhaft zu ertragen, kann das Geschick ihm nicht nehmen."
Mit diesen Worten bezog sich der griechische Biograph Plutarch im 1. Jahrhundert n. Chr. auf Cornelia, der Mutter der beiden Gracchen. Die Ereignisse, durch die die Brüder berühmt geworden waren, lagen fast zwei Jahrhunderte zurück und waren in Rom bisher je nach sozialem Standort und politischer Großwetterlage sehr unterschiedlich beurteilt worden. Über eines aber herrschte Übereinstimmung: Mutter Cornelia gebührte uneingeschränkte Hochachtung.

"Das Volk verehrte Cornelia um ihrer Söhne willen nicht weniger als wegen ihres Vater. Später setzte es ihr ein ehernes Standbild mit der Inschrift 'Cornelia, die Mutter der Gracchen'"

Eine solche Ehre widerfuhr sonst nur würdigen Staatsmännern oder Kriegshelden, keinesfalls aber einer Frau. Was hatte die konservativen Römer bewogen, in Cornelias Fall eine Ausnahme zu machen?

Die Tochter des Scipio Africanus

Rom, im 2. Jahrhundert v. Chr. In blutigen Kriegen unterwarfen sich die Römer große Teile des Mittelmeerraums. Durch den Sieg über Karthago und seinen Feldherrn Hannibal hatten sie die Herrschaft im westlichen Mittelmeerraum errungen und waren nun dabei, den römischen Machtanspruch auch bei den kulturälteren Völkern in Griechenland und im Vorderen Orient durchzusetzen. Die hemmungslose Expansion Roms führte zu gewaltigen Veränderungen in der römischen Gesellschaft: längst vorbei war die Epoche des bäuerlichen Stadtstaats und der ernsten, selbstverständlichen Verwirklichung altrömischer Tugendideale. Vor allem der Kontakt zur Kultur der Griechen, die man als weitaus höherstehend als die eigene empfand, bewog weite Kreise der römischen Aristokratie, ihren Lebensstil gründlich zu ändern. Weltläufigkeit, griechische Bildung und ein luxuriöser Lebensstil hießen die neuen Ziele. Schon zu Beginn des Jahrhunderts verband man mit dieser progressiven Richtung den Namen vor allem einer Familie: der der Scipionen. Da war Publius Cornelius Scipio (235-183 v. Chr.), Oberhaupt der gens Cornelia, des cornelischen Geschlechts. Der "Africanus", Sieger von Zama, der Hannibalüberwinder, galt unangefochten als führende Persönlichkeit der Zeit.


Scipios zweite Tochter Cornelia wurde ca. 192 v. Chr. geboren. Ihre Mutter war Aemilia, eine Tochter jenes Feldherrn Aemilius Paulus, der bei der grauenvollen römischen Niederlage von Cannae (216 v. Chr.) sein Leben verloren hatte. Aristokratischer konnte man nicht sein und dementsprechend umfassend gestaltete sich auch Cornelias Erziehung und Ausbildung. Scipio stellte kompetente griechische Hauslehrer ein, die das ernsthafte Mädchen mit der griechischen Sprache, der Literatur und Philosophie vertraut machten. Er sorgte dafür, daß sich das Mädchen jene gründliche griechische Bildung erwarb, für die Cornelia später noch jahrhundertelang gerühmt werden sollte.
"Zur Redegabe der Gracchen hat ja bekanntlich ihre Mutter Cornelia viel beigetragen, deren hochgebildete Sprache der Nachwelt auch in ihren Briefen erhalten ist."

Ganz besonders beeindruckte Cornelia die stoische Philosophie.
Die stoischen Philosophen lehrten, daß ein Mensch nur durch innere Unabhängigkeit von den äußeren Wechselfällen des Lebens wirklich frei sein kann. Mit Gleichmut solle der Weise dem Willen der Götter gehorchen, hatte der griechische Stoiker Kleanthes im 3. Jahrhundert v. Chr. geschrieben.
"Jedem ist freilich sein Schicksal vorgezeichnet, es kommt nur darauf an, ob er ihm freiwillig oder widerwillig folgt. Freiwilliges Folgen wird ihm wie eine gute Tat angerechnet."
Cornelia hat diese Maximen zur Richtschnur ihres Lebens gemacht. Die Selbstbeherrschung, mit der sie später die Tragödie ihrer Kinder ertragen sollte, ist durch und durch stoisch und entsprach außerdem auch altrömischen Wertvorstellungen wie Ernsthaftigkeit und Pflichterfüllung.

Selbstverständlich wurden daneben die altrömischen Erziehungsziele für Mädchen nicht vernachlässigt. Nach wie vor sah man auch in diesen Kreisen den Idealtypus der römischen Frau als "häuslich, keusch und wollewebend". Und wie sich später herausstellen sollte, erfüllte Cornelia alle nur erdenklichen Idealvorstellungen: Kinderreichtum, Treue, Patriotismus, ein sittsames, würdevolles Leben als römische Matrone.

Cornelia war noch ein Kind, als der fast dreißig Jahre ältere Tiberius Sempronius Gracchus um ihre Hand anhielt. Da man in Rom das früheste Heiratsalter für Mädchen auf zwölf Jahre festgelegt hatte, war daran nichts Ungewöhnliches. Die Römer brachten eine Ehe nicht unbedingt mit Liebe in Verbindung, unter den "nobiles" bedeutete sie vor allem das Zusammenführen des politischen Gewichts zweier Familien und das Vergrößern von Vermögen. Es ist daher bemerkenswert, daß Cornelia und Gracchus bald innige Gefühle füreinander entwickelten. Und das trotz aller Widerstände: Vater Scipio war strikt gegen diese Ehe, sah er doch in Tiberius Gracchus einen politischen Gegner. Im politischen Tagesgeschäft stand Gracchus in der Regel zu der Familie der Claudier, deren Anschauungen und Ziele mit denen der Scipionen meist nicht konform gingen.

Ein latenter Konkurrenzkampf gehörte zum Alltag der senatorischen Familien. Grundlage des republikanischen Staats war die Politikfähigkeit der im Senat vertretenen großen "gentes". Die Voraussetzung für das Gewicht einzelner Familien bildeten eine lange Reihe illustrer Vorfahren, von den möglichst viele höchste Staatsämter innegehabt haben sollten und natürlich Vermögen. Im 2. Jahrhundert v. Chr. kam ein neuer, sozusagen ideologiebedingter Aspekt hinzu: dem fortschrittsorientierten Scipionenkreis stellten sich grimmig Cato der Ältere (234-149 v. Chr.) und seine Anhängerschaft entgegen. Cato, ein eifersüchtiger Hüter altrömischer Traditionen, der wie auch Scipio Consul und Censor gewesen war, focht erbittert gegen den griechischen Einfluß, "die Überfremdung". Besonders verhaßt war ihm die herausragende Position eines Einzelnen, mit anderen Worten: Scipio! Jahrelang vergiftete die zunehmende Bösartigkeit der Auseinandersetzung das innenpolitische Leben Roms. Als Catos Rufmordkampagne schließlich in einem politischen Skandalprozeß gegen Scipios Bruder gipfelte, zog sich Scipio verbittert aus dem politischen Leben zurück und lebte bis zu seinem Tod 183 v. Chr. auf seinem Landgut in der Campania.

Cornelia hat im Hause Scipios diese Ereignisse hautnah mitbekommen. Tatsächlich verließ sie ihr Elternhaus noch lange nicht, denn sie durfte Tiberius Gracchus ja nicht heiraten. Selbst nach dem Tod des Vaters versagte die Familie die Erlaubnis. Allerdings weigerte sich Cornelia standhaft, eine andere Ehe einzugehen, sie liebte und wollte nur Gracchus. Erst nach einigen Jahren kam die Heirat doch zustande, die Familien bemühten sich eine Zeit lang, miteinander auszukommen.

Die Gemahlin des Consuls

Als Cornelia Tiberius Sempronius Gracchus heiratete, war sie schon jenseits der 25, ein ungewöhnlich spätes Heiratsalter für eine Römerin. Das Warten hatte sich gelohnt: die Ehe wurde glücklich. Cornelia bekam in den folgenden Jahren 12 Kinder, darunter einige Zwillinge. Durch ihre gesellschaftliche Stellung stand die Familie stets im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Cornelia kam allen Verpflichtungen vorbildlich nach. Ihr persönliches Auftreten blieb jedoch immer bescheiden und zurückhaltend. Einmal wurde sie gefragt, warum sie denn keinen Schmuck trage.
"Mein Schmuck sind meine Kinder!" gab sie zur Antwort

Dieser glückliche Abschnitt im Leben Cornelias dauerte genau bis zum Jahr 153 v. Chr. In diesem Jahr starb ihr Mann Tiberius und Cornelia trauerte sehr um ihn. Doch das Schicksal hielt noch Schlimmeres bereit.

Die zwölffache Mutter

Innerhalb von drei Jahren starben neun ihrer zwölf Kinder. Vergebens taten die Ärzte alles Menschenmögliche, umsonst wachte Cornelia Tag und Nacht an den Betten ihrer kranken Kinder, eines nach dem anderen wurde tot aus dem Haus getragen. Die Verzweiflung, die Cornelia empfunden haben mag, ließ sie nicht nach außen dringen. Mit ehrfürchtiger Scheu blickten die Zeitgenossen auf ihre Trauer und bewunderten ihre gefaßte Haltung.
Drei Kinder waren ihr geblieben: der im Jahr 163 v. Chr. geborene Tiberius, der neun Jahre jüngere Gaius und ihre Tochter Sempronia.

"Ihre ganze Sorgfalt verwandte sie nun darauf, die Kinder gut zu erziehen. So bekam man den Eindruck, mehr als die Naturanlage habe die mütterliche Erziehung die beiden Söhne, welche allgemein als die begabtesten unter allen Römern galten, zu edlen und tüchtigen Männern gemacht." erzählt Plutarch.

Für die Erziehung ihrer Kinder holte Cornelia angesehene griechische Gelehrte, wie etwa Diophanes von Mytilene und Blossius von Cumae, ins Haus und versuchte, den dreien einen weiten geistigen Horizont mitzugeben. Sie selbst führte ein gastliches Haus und ihre Einladungen wurden berühmt als Treffpunkte der geistigen Elite Roms.
Natürlich blieb es nicht aus, daß eine Reihe angesehener Männer sich um die Hand der jungen Witwe bewarben. Aber Cornelia sagte nein zu allen Angeboten. Sie schlug sogar einen Antrag des ägyptischen Thronfolgers Ptolemaios Euergetes aus. In Rom wolle sie bleiben und ihre Söhne zu "echten Römern" erziehen!

Im Jahr 147 v. Chr. wurde Cornelias Tochter Sempronia mit dem amtierenden Consul Publius Cornelius Scipio Aemilianus verheiratet. Der Adoptivenkel des älteren "Africanus", der Zerstörer von Numantia und Karthago (146 v. Chr.), sollte als einer der großen Feldherren in die römische Geschichte eingehen.
Der ältere Sohn Cornelias, Tiberius, nahm Claudia, die Tochter des Appius Claudius Pulcher zur Frau, somit führte die Gegnerschaft der Scipionen und der Claudier auch zu einem Riß mitten durch Cornelias Familie.

Einige Jahre später begann Cornelias ältester Sohn seine politische Laufbahn.


Der Volkstribun Tiberius Sempronius Gracchus und die Ackergesetze

Mit dem Zeitpunkt, an dem Tiberius Sempronius Gracchus seine politische Laufbahn begann, fing für Cornelia eine neue Phase der Unsicherheit an. Tiberius diente unter seinem Schwager Scipio beim Militär, er stand an vorderster Front vor Karthago und in Spanien vor Numantia. In dieser Zeit stieg ihm das ganze Elend, das die andauernden Kriege in Italien anrichteten, in aller Schärfe zu Bewußtsein: die Landwirtschaft lag darnieder, die Kleinbauern und Pächter starben in Massen auf den Schlachtfeldern, das Land verödete. Wenn die Überlebenden heimkehrten, mußten sie allzu oft feststellen, daß ihre Familien vertrieben worden waren und skrupellose senatorische Großgrundbesitzer sich das Land mit übelsten Tricks oder auch nackter Gewalt angeeignet hatten. Das war die Stunde der reichen Kriegsgewinnler. Riesige, profitable Latifundien dehnten sich über Italien, die, weitaus rentabler, mit Massen von Sklaven bewirtschaftet wurden. Zwar war die Größe des jeweils pachtbaren Staatslandes (ager publicus) begrenzt (Licinisch-Sextische Gesetze 367 v. Chr.), doch die reichen Großgrundbesitzer hatten sich schon seit langem nicht mehr daran gehalten.


Am 10. Dezember des Jahres 134 v. Chr. ließ sich Tiberius Sempronius Gracchus zum Volkstribunen wählen. Dieses Amt schien ihm das geeignete für sein Reformvorhaben zu sein, denn als Volkstribun würde er den Vorsitz in der Volksversammlung führen, die seit langem die gleiche gesetzgebende Kompetenz besaß wie der Senat. Und im Senat waren die Großgrundbesitzer zu finden, mit deren erbittertem Widerstand zu rechnen war. Als erstes formulierte Tiberius einen Gesetzesantrag, der die Reichen dazu zwingen sollte, das Land herauszugeben, aus dem sie widerrechtlich Nutzen zogen. Sie sollten nicht etwa mit einer Strafe rechnen müssen, sondern obendrein auch noch eine Entschädigung erhalten.

"Und es ist wohl nie ein Gesetz, das gegen so schreiendes Unrecht und gegen solche Habgier sich wandte, in mildere, schonendere Form gefaßt worden."

Das Volk jubelte Tiberius zu, als er auf dem Forum in einer flammenden Rede seinen Antrag begründete.
"Die wilden Tiere, welche in Italien hausen, haben ihre Gruben, jedes von ihnen weiß seine Lagerstätte, seinen Schlupfwinkel. Nur die, welche für Italien kämpfen und sterben, könne auf nichts weiter als Luft und Licht rechnen; unstet, ohne Haus und Wohnsitz müssen sie mit Weib und Kindern umherirren. Die Feldherrn lügen, wenn sie in den Schlachten die Soldaten ermuntern, ihre Grabmäler und Heiligtümer gegen die Feinde zu verteidigen, denn von so vielen Römern hat keiner einen väterlichen Herd, keiner eine Grabstätte seiner Vorfahren aufzuweisen. Nur für die Üppigkeit und den Reichtum anderer müssen sie ihr Blut vergießen und sterben. Sie heißen Herren der Welt, in Wirklichkeit könne sie keine einzige Erdscholle ihr Eigentum nennen."

Weder Tiberius noch Cornelia haben vermutlich mit dem Sturm gerechnet, der nun losbrach. Der Tribun hatte buchstäblich in ein Wespennest gestochen.
"So rotteten sich die Reichen in Gruppen zusammen, erhoben ein Klagegeschrei und warfen den Armen vor, sie eigneten sich die Früchte ihrer bisherigen Bodenbestellung, ihre Pflanzungen und Gebäude an."

Sabotage des Senats

Die Senatoren gebärdeten sich, als habe Tiberius zum Umsturz des Staates aufgerufen, beim einfachen Volk aber wurde sein Vorstoß begreiflicherweise mit großer Begeisterung aufgenommen. Überall in der Stadt liefen die Menschen zusammen und debattierten leidenschaftlich.

Entsetzt verfolgten die Senatoren diese Entwicklung. Das erregt nach Rom strömende Landvolk trieb ihnen den Angstschweiß auf die Stirn, die Luft schmeckte nach Aufstand! Was war zu tun? Da war natürlich eine Möglichkeit, Tiberius zu sabotieren! Schließlich war er nicht der einzige Volkstribun und jeder Tribun verfügte über das Vetorecht.
Die Götter mögen wissen, womit der Volkstribun Marcus Octavius von den Senatoren geködert wurde, jedenfalls schmetterte er mit seinem "Veto" den Gesetzesvorschlag des Tiberius ab.
"Gereizt zog Tiberius das milde Gesetz zurück und legte einen Antrag vor, der mehr dem Geschmack der Menge entsprach und die unrechtmäßigen Grundbesitzer härter traf: er verfügte, daß sie unverzüglich das Land, das sie sich entgegen den früheren Bestimmungen angeeignet hatten, abtreten sollten."

Ein noch entschiedeneres "Veto" war natürlich die Folge. Vergebens bat, beschwor Tiberius seinen Gegner. Marcus Octavius blieb hart. An drei aufeinanderfolgenden Tagen verhinderte er unerbittlich die Abstimmung über das gracchische Ackergesetz.
Schließlich riß Tiberius der Geduldsfaden. Wilde Agitation und Tumulte begleiteten die Sitzung der Volksversammlung, in der Tiberius Marcus Octavius kurzerhand aus seinem Amt wählen ließ.
Damit verließ Tiberius den Boden der Legalität. Die Amtsenthebung eines sakrosankten Volkstribuns war ein noch nie dagewesener Traditionsbruch! Darüber war sich jeder im Klaren, auch wenn sich Tiberius noch so sehr öffentlich rechtfertigte.
"Heilig und unverletzlich ist der Tribun, weil er dem Volke geweiht und dessen Führer ist. Wenn er aber pflichtvergessen dem Volke schadet, seine Einfluß mindert, das Stimmrecht ihm wegnimmt, so beraubt er sich selber seines Amtes, da er die Verpflichtungen nicht mehr erfüllt, unter denen er es übernahm. Wer die Rechte des Volkes zerstört, ist überhaupt kein Volkstribun mehr!"

Das Ackergesetz konnte nun die Volksversammlung passieren. Seitens der Senatoren schlug Tiberius nun allerdings blanker Haß entgegen. Immer weniger schien sich dieser Tribun an die alten geheiligten Regeln zu halten! Schon brach er die nächste:
König Attalos III. von Pergamon hatte sein Reich und sein Vermögen testamentarisch Rom vermacht. Tiberius beantragte, das römische Volk solle als eigentlicher Erbe über das Geld verfügen. Was läge denn näher, so meinte er, als die Mittel dazu zu verwenden, die Umverteilung des italischen Bodens zu finanzieren? Ein Aufschrei ging durch die Patrizierkreise. Ein Eingriff in die Finanzhoheit des Senats? In einigen Senatorengehirnen formte sich zum erstenmal der Gedanke an Mord.

"Da zogen die Besitzenden Trauerkleider an und gingen klagend und niedergedrückt auf dem Markt herum, heimlich aber schmiedeten sie Anschläge auf Tiberius und dangen Meuchelmörder."

Inzwischen hatte eine von Tiberius eingesetzte Ackerkommission ihre Arbeit aufgenommen. Ihren Vorsitz führte der neun Jahre jüngere Bruder des Tiberius, Gaius Sempronius Gracchus, der so aufs Engste mit dem politischen Programm seines Bruders verbunden war. Die Kommission hatte eine Sisyphusarbeit vor sich, denn die Großgrundbesitzer wehrten sich natürlich mit allen nur denkbaren juristischen Tricks gegen eine Neuaufteilung des italischen Bodens. Eine wahre Prozesslawine rollte an...

Mord am Wahltag


Tiberius wußte, daß sein Amtsjahr viel zu kurz war, um sein Vorhaben zu Ende zu bringen. Er stellte sich also zur Wiederwahl ins Tribunat, obwohl er das nach den geltenden Bestimmungen gar nicht durfte. Die politische Lage glich einem Pulverfaß.

An dem Tag, an dem die Tribunen für das nächste Jahr gewählt werden sollten, brach die Katastrophe herein. Tiberius führte den Vorsitz bei der Wahlversammlung auf dem Kapitol. Immer wieder ging sein Blick hinüber zum nahegelegenen Fides-Tempel, wo sich seine Gegner drängten. Ihre finsteren Mienen und drohenden Gebärden verhießen nichts Gutes. Sie waren offensichtlich zu allem entschlossen. Um auch den entfernter Stehenden klarzumachen, daß sein Leben bedroht sei, deutete Tiberius mit der Hand an seinen Kopf. 'Er hat nach der Königswürde verlangt' gellte es prompt vom Fides-Tempel.

"Auf denn! Wer für die Gesetze einstehen will, der folge mir nach!" brüllte ein Senator und zahlreiche, mit Mordwerkzeugen bewaffnete Männer stürmten die Versammlung. Dumpf krachten Knüppel und Bretter auf die Gefolgschaft des Tiberius nieder. Er selbst wurde mit einem Stuhlbein erschlagen und mit ihm fanden Hunderte seiner Anhänger den Tod.

Wie versteinert nahm Cornelia die Nachricht vom Tod ihres Sohnes auf. Mit welchen inneren Qualen sie um ihre gefaßte Haltung gerungen haben mag, können wir nur vermuten. Nicht einmal beisetzen konnte sie Tiberius, denn man hatte die Leiche in den Tiber geworfen. Doch es kam alles noch schlimmer...

Fieberhaft warteten die Römer auf die Rückkehr des Scipio Aemilianus aus Spanien. Wie würde er, der mächtige Feldherr, auf die Ereignisse reagieren?

"Wenn er im Sinn gehabt hat, den Staat in seine Gewalt zu bringen, dürfte er mit Recht gefallen sein." kommentierte Scipio kühl den Tod seines Schwagers. Das römische Volk verzieh ihm diese Äußerung nie, bei den meisten Senatoren aber erntete er selbstzufriedenen Beifall.

Rufmord

Vier Jahre später, im Jahr 129 v. Chr., wurde Scipio eines Morgens tot auf seinem Lager aufgefunden. Woran er gestorben war, konnte nie herausgefunden werden. 'War es Mord?' flüsterten die Gegner der Familie, 'wenn ja, könnte es sein, daß vielleicht Cornelia...?' Was für eine glänzende Gelegenheit für Rufmord! Gierig wurde zugegriffen.

"Es läßt sich nicht feststellen, ob Cornelia, die Mutter des Gracchus, - mit Beihilfe ihrer Tochter Sempronia, die, obwohl mit Scipio vermählt, infolge ihrer Mißgestalt und Kinderlosigkeit weder Liebe fand noch schenkte - die Tat vollbrachte."

Cornelia setzte diese Kampagne so zu, daß sie es in Rom nicht mehr aushielt. Deprimiert, aber ungebrochen bezog sie für immer ihre Landvilla in Misenum am Golf von Neapel. Aber auch von dort aus verfolgte sie weiter sehr genau die politischen Entwicklungen in Rom. Denn da war ja noch Gaius, ihr jüngster Sohn, ein hochintelligenter, sehr temperamentvoller junger Mann.

Der schreckliche Tod seines Bruders bedeutete für Gaius Sempronius Gracchus die entscheidende Weichenstellung für sein Leben. Bis in seine nächtlichen Träume fühlte er sich von Tiberius gemahnt.

"Was zauderst du, Gaius? Es gibt kein Entrinnen, uns beiden ist das gleiche Los bestimmt: im Dienste des Volkes zu leben und zu sterben!" kolportiert Plutarch.

Mit wachsender Furcht sah Cornelia, daß Gaius in allem die Politik seines Bruders wiederaufnahm. Falsch fand sie das, falsch und gefährlich. Sie fürchtete nicht nur die Bedrohung für Gaius, auch die chaotischen Verhältnisse in der Politik konnte sie nicht gutheißen. "Wann kommt endlich Ruhe über mich? Wann wird der Wahnsinn in unserer Familie einmal aufhören? Wird die Sache einmal ein Maß finden? Werden wir einmal, ob leidend, ob handelnd, aufhören, uns mit so peinigenden Dingen abzugeben? Wird nie die Scheu davor, den Staat zu verwirren und in Aufruhr zu bringen, aufhören?"

Gaius Sempronius Gracchus, der Revolutionär

Im Jahr 123 v. Chr. wurde auch Gaius Sempronius Gracchus zum Volkstribunen gewählt, frenetisch bejubelt von den Besitzlosen. Er hatte das Zeug dazu, ein charismatischer Volksführer zu werden. Viel leidenschaftlicher als Tiberius, konnte er mit seiner glänzenden Rednergabe die Massen mitreißen. Und auf Tiberius berief er sich wieder und wieder: "Den Tiberius aber haben diese Leute da vor euren Augen mit Knütteln totgeschlagen, seinen Leichnam vom Kapitol mitten durch die Stadt geschleift und in den Tiber geworfen!... Die Schlechtesten haben den Besten getötet, meinen Bruder Tiberius! Schaut her, wie sehr ich ihm ein Ebenbild bin! Wollt ihr zulassen, daß uns Schmach bedeckt?"

Vergebens versuchte Cornelia in Briefen Gaius zur Zurückhaltung zu bewegen: "Du wirst sagen, es sei schön, sich an den Feinden zu rächen. Auch mir erscheint nichts schöner und herrlicher, als dem Feinde zu vergelten, sofern das geschehen kann, ohne daß das Vaterland darüber zugrunde geht. Weil das aber nicht geschehen kann, ist es viel besser, daß unsere Feinde weiterbestehen und bleiben, was sie sind, tausendmal besser, als daß der Staat zerrüttet und zugrundegerichtet werde."

In seinen politischen Zielen ging Gaius viel weiter als sein Bruder. Das Problem der Landwirtschaft sah er nur als eines unter vielen. Er wollte das Los der einfachen Leute insgesamt verbessern. Dafür brachte er in die Volksversammlung ein Paket von 16 Einzelgesetzen ein. Billiges Getreide für die Armen, Erleichterung des Militärdiensts, das römische Bürgerrecht für die italischen Bundesgenossen und .., und.., und.. . Den Senat traf er am Empfindlichsten, als er mit seinem Richtergesetz die absolute Macht der Senatoren in der Rechtsprechung brach.
"Gaius fügte nun zu den dreihundert senatorischen Richtern dreihundert weitere aus dem Ritterstand und ließ die Urteile von den sechshundert gemeinsam fällen."

Mißachtung jeglicher Tradition, nein, mehr noch, frecher Angriff auf die bestehende Ordnung, urteilten die aufgebrachten Senatoren. Gaius mußte mit allen Mitteln bekämpft werden!

Von furchtbarer Angst gepeinigt, versuchte Cornelia von Misenum aus, Gaius zu beeinflussen. Er möge doch bitte auch auf sie Rücksicht nehmen! Sie schrieb an Gaius: "Mit Eidesformeln möchte ich den hohen Schwur tun, daß außer denen, die den Tiberius Gracchus getötet haben, kein Gegner mir in dieser Sache so viel Sorge und Last wie du bereitet hat. Du, der Fähigste meiner Kinder, die ich vordem hatte, solltest nur darauf achten, daß ich in meinem Greisenalter möglichst wenig Kummer habe, nur darauf bedacht sein, daß alles was du betreibst, mir vornehmlich gefalle, daß du es für eine Missetat hältst, irgendetwas Wichtigeres in Widerspruch zu meinen Ansichten zu tun, zu mir, der nur noch so kurze Lebensfrist gegeben ist."

Wegen seiner Mutter wollte Gaius seine politischen Ziele nicht aufgeben. Er hat Cornelia allerdings öfters in seinen Reden erwähnt. Doch wenn ein nichtswürdiger Gegner das auch tat, sah Gaius rot: "Wie kommst du dazu, Unverschämter, dich mit Cornelia in einem Atemzug zu nennen? Hast du Kinder geboren wie sie? Ich will dir sagen, was ganz Rom weiß: sie hat als Frau länger ohne Mann gelebt, als du als Mann!"

Die Wühlarbeit des Senats gegen Gaius Gracchus war bodenlos. Jede Abwesenheit des Tribunen wurde dazu benutzt, Stimmung gegen ihn zu machen. Wieder fand sich ein anderer Volkstribun, der sich dem Senat zur Verfügung stellte. Marcus Livius Drusus "... brachte Gesetze ein ohne Rücksicht auf die Ehre und das Wohl des Staates, sondern allein darauf bedacht, Gaius beim Volke durch Liebedienerei und Gefälligkeiten auszustechen."

Diese Politik stärkte die Position des Senats umso mehr, als dieser ungeniert Schindluder trieb mit dem Aberglauben der einfachen Leute. Plötzlich gab es da zahlreiche, angeblich göttliche Vorzeichen, die auf die Zweifelhaftigkeit von Gaius' Vorgehen hinwiesen!

Noch aber war Gaius' Entschlossenheit ungebrochen. Um seine Verbundenheit mit dem einfachen Volk zu demonstrieren, verlegte er seinen Wohnsitz aus dem vornehmen Palatinviertel in eine Arme-Leute-Gegend. Bald wurde ruchbar, daß er sich um ein zweites Tribunat bewerben wollte. Mit wachsender Verzweiflung beschwor Cornelia ihren Sohn: "Wenn es aber nicht anders sein kann, so bewirb dich erst wenn ich tot bin, um das Amt des Tribunen. Tu meinetwegen, was dir beliebt, wenn ich es nicht mehr erlebe."

Gaius zögerte... Lüge, Verleumdung und Haß vergifteten mittlerweile die Atmosphäre in Rom. Nicht sonderlich diplomatisch trug Gaius selbst dazu bei, indem er seine Gegner öffentlich verhöhnte: "Ihr schlagt eine krampfhafte Lache an und merkt nicht, welch dunkle Nacht meine Politik über euch gebreitet hat."

Die Katastrophe

Immer wieder kam es zu Volksaufläufen, Tumulten und Schlägereien. Als Gaius schließlich ins Tribunat gewählt wurde, ohne daß er kandidiert hatte, schlug der Senat zurück. Ein Verfahren zur Amtsenthebung wurde eingeleitet, untermauert durch die Ausrufung des Staatsnotstandes. Der derzeitige Consul, ein erzkonservativer Mann, erhielt damit die dictatorische Vollmacht zur Wiederherstellung der Ordnung. Eine neue Katastrophe kündigte sich an...

Ein letztes Mal wandte sich Gaius Gracchus an das Volk: "Wohin soll ich Unglückseliger mich wenden? Wohin mich flüchten? Auf das Capitol? Das trieft vom Blute des Bruders! Nach Hause? Um die unglückliche Mutter jammernd und im Elend zu sehen?"

Gaius' Ende leitete eine Volksversammlung auf dem Capitol ein. Dort kam es zu brutalen Schlägereien und schließlich zu Toten. Der Consul forderte Gaius ultimativ auf, sich wegen dieser Vorfälle zu verantworten. Gaius weigerte sich und verschanzte sich mit Tausenden seiner Anhänger auf dem Aventin. Eiskalt wies der Consul sämtliche Versöhnungsvorschläge zurück und blies zum Sturm auf die Gracchisten.

Unzählige Menschen wurden an diesem Tag brutal niedergemetzelt. Gaius versuchte zunächst zu fliehen, wurde aber bald eingeholt. In auswegloser Lage ließ sich der letzte Sohn Cornelias erdolchen. Mit ihm starben nicht nur seine Anhänger - Tausende von Leichen schwemmte der Tiber davon - sein Tod bedeutete auch das Ende der Reformbewegung.

Der Senat annullierte fast alle Gesetze der Gracchen, das öffentliche Staatsland wurde zum Privatbesitz der Großgrundbesitzer erklärt. Keines der drängenden sozialen Probleme war gelöst. Gaius Gracchus sollte später Recht behalten mit seiner Prophezeihung, er "lasse die Messer zurück, mit denen das römische Volk sich zerfleischen werde."

Cornelia erhielt vom Consul den grausamen Befehl, in der Öffentlichkeit keine Trauer zu zeigen. Auch diesmal blieb ihr der Trost einer Bestattung verwehrt. Gaius' geköpften Leichnam hatte man in den Tiber geworfen, den Kopf aber mit Blei gefüllt. Der Consul hatte nämlich öffentlich erklärt, er würde jedem Gaius' Kopf mit Gold aufwiegen. Aber trotz allem:

"Cornelia soll ihr Unglück mit edler Würde und starkem Herzen getragen haben."

Cornelia lebte noch 18 Jahre in Misenum. Bis zu ihrem Tod im Jahr 113 v. Chr. blieb sie geistig rege und beschäftigte sich mit Literatur, Kunst und Philosophie. Nach wie vor liebte sie es, Gäste einzuladen..
"Die größte Freude bereitete sie ihren Gästen und Freunden, wenn sie vom Leben und den Gewohnheiten ihres Vaters Africanus erzählte; höchste Bewunderung aber mußte man ihr zollen, wenn sie ohne Schmerz und Tränen ihrer Söhne gedachte und allen, die nach ihnen fragten, ihre Taten und Leiden schilderte, als spräche sie von Männern der Vorzeit. So bekam mancher den Eindruck, das Alter oder die Größe des Leids hätten ihr den Verstand genommen und die Empfindung für ihr Unglück geraubt, doch haben diese Leute selber kein Gefühl dafür, wieviel Kraft gegen Kummer und Schmerz den Menschen aus einer edlen Naturanlage, aus vornehmer Abkunft und guter Erziehung erwachsen kann."